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nunft: so sehe ich nicht, wie er je in seinem Leben mit Vernunft denken könne: oder seine ganze Seele, die ganze Haushaltung seiner Natur, ward geändert.

Nach richtigern Begriffen ist die Vernunftmåßigkeit des Menschen, der Charakter seiner Gattung, etwas anders, nehmlich: "die gänzliche Bestimmung seiner denkenden Kraft „im Verhältniß seiner Sinnlichkeit und „Triebe." Und da konnte es, alle vorigen Analogien zu Hülfe genommen, nichts anders sein, als daß

Wenn der Mensch Triebe der Thiere hatte, er das nicht haben könnte, was wir jeht Vers nunft in ihm nennen; denn eben diese Triebe rissen ja seine Kräfte so dunkel auf einen Punkt hin, daß ihm kein freier Besinnungskreis ward. Es mußte sein, daß

Wenn der Mensch Sinne der Thiere, er keis ne Vernunft håtte; denn eben die starke Reizbars keit seiner Sinne, eben die durch sie mächtig andrine genden Vorstellungen müßten alle kalte Besonnenheit ersticken. Aber umgekehrt mußte es auch nach eben diesen Verbindungsgesehen der haushaltenden Natur sein, daß

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Wenn thierische Sinnlichkeit und Eingeschlossenheit auf einen Punkt wegfiele: so wurde ein ander Geschöpf, dessen positive Kraft sich in grdFerm Raume nach einer feineren Organis

sation, heller, dußerte; das abgetrennt und frei nicht blos erkennet, will und wirkt, sondern auch weiß, daß es erkenne, wolle und wirke. Dies Ges schöpf ist der Mensch; und diese ganze Disposition seiner Natur wollen wir, um den Verwirrungen mit eignen Vernunftkräften u. s. w. zu entkommen, «Bes fonnenheit" nennen. Es folgt also nach eben diesen Verbindungsregeln, da alle die Wörter Sinns lichkeit und Instinkt, Phantasie und Vernunft, doch nur, Bestimmungen einer einzigen Kraft sind, wo Entgegensehungen einander aufheben, daß—

Wenn der Mensch kein Instinktmäßiges Thier sein sollte, er vermöge der freierwirkenden positiven Kraft seiner Seele ein besonnenes Geschöpf sein mußte. Wenn ich die Kette dieser Schlüsse noch einige Schritte weiter ziehe, so bekomme ich damit vor künftigen Einwendungen einen den Weg sehr kürzenden Vorsprung.

Ist nemlich die Vernunft keine abgetheilte, eins zeln wirkende Kraft, sondern eine feiner Gattung eige ne Richtung aller Kräfte, so muß. der Mensch fie im ersten Zustande haben, da er Menschh ist. Im ersten Gedanken des Kindes muß sich diese Besonnenheit zeigen, wie bei dem Insekt, daß es Insekt war. Das hat nun mehr als ein Schriftsteller nicht begreifen können, und daher ist die Materie, über die ich schreibe, mit den rohesten Einwürfen angefüllet; aber sie begriffen es nicht, weil sie

es mißverstanden. Heißt denn vernünftig denken, mit ausgebildeter Vernunft denken? Heißts, der Säugling denke mit Besonnenheit, er råsonnire wie ein Sophist auf seinem Katheder oder wie der Staatsmann in seinem Cabinet? Glücklich und dreimal glücklich, daß er von diesem ermattenden Wust von Vernünfteleien noch nichts wußte! Aber siehet man nicht auch, daß dieser Einwurf blos einen so und nicht anders, einen mehr oder minder gebildeten Gebrauch der Seelenkräfte, und durchaus kein Positives einer Seelenkraft selbst läugs ne? Und welcher Thor würde da behaupten, daß der Mensch im ersten Augenblick des Lebens so denke, wie nach einer vieljährigen Uebung; es sei denn, daß man zugleich das Wachsthum aller Seelenkräfte läugnete, und sich eben damit selbst für einen Uns mündigen bekennte? So wie doch aber dies Wachse thum in der Welt nichts bedeuten kann, als einen leichtern, stärkern, vielfachern Gebrauch; muß denn das nicht schon da seyn, was gebraucht werden? muß das nicht schon Keim sein, was da wachsen foll? Und ist also nicht im Keime der ganze Baum enthalten? So wenig das Kind Klauen wie ein Greif, noch eine Löwenmähne hat: so wenig kann es wie Greif und Löwe denken: denkt es aber menschlich, so ist Besonnenheit das ist, die Bestimmung aller seiner Kräfte auf diese Hauptrichs tung schon im ersten Augenblicke dergestalt

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sein Loos, wie sie es im letzten sein wird. Die Vernunft äußert sich unter seiner Sinnlichkeit so wirklich, daß der Allwissende, der diese Seele schuf, in ihrem ersten Zustande fchon das ganze Gewebe von Handlungen des Lebens sah, wie etwa der Meßkünstler nach gegebner Classe aus einem Gliede der Progreßion das ganze Verhältniß derselben findet.

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Ist mit der

einer Ten

Aber so war doch diese Vernunft damals mehr „Vernunftfähigkeit (Réflexion en puiffance) als „wirkliche Kraft ?" Die Ausnahme sagt kein Wort. Bloße, nackte Fähigkeit, die auch ohne vorliegendes Hinderniß keine Kraft, nichts als Fähigkeit sei, ist so ein tauber Schall, als plastische Formen, die da formén, aber selbst keine Formen sind. Fähigkeit uicht das geringste Positive zu benz da: so ist nichts da so ist das Wort blos Abstraktion der Schule. Der neuere französische Philosoph, * der diese réflexion en puiffance, diefen Scheinbegrif so blendend gemacht, hat, wie wir sehen werden, immer nur eine Luftblase blendend geinacht, die er eine Zeitlang vor sich hertreibt, die ihm selbst aber unvermuthet auf seinem Wege zerspringt. Und ist in der Fähigkeit nichts da; wodurch soll es denn je in die Seele kommen? Ist im ersten Zustande nichts Positives von Vernunft in der Seele, wie wirds bei Millionen der folgenden Zustände wirklich werden? Es ist Worttrug, daß der Gebrauch eine * Rousseau über die Ungleichheit 20.

Fähigkeit in Kraft, etwas blos Mögliches in ein Wirkliches verwandeln könne: denn ist nicht schon Kraft da, so kann sie ja nicht gebraucht und angewandt werden. Zudem endlich, was ist beides: eine abgetrennte Vernunftfähigkeit und Vernunftkraft in der Seele? Eines ist so unverständlich, als das andere. Sezet den Menschen als das Wesen, das Erist, mit dem Grade von Sinnlichkeit, und der Organisation ins Universum: von allen Seiten, durch alle Sinne strömt dies in Empfindungen auf ihn los. Durch mënschliche Sinne? auf menschliche Weise? So wird also, mit den Thieren verglichen, dies denkende Wesen weniger überströmt: es hat Raum, seine Kraft freier zu äußern, und dieses Verhältniß heißt Vernunftmäßigkeit. Wo ist da bloße Fähigkeit? Wo eine abgesonderte Vernunftkraft? Es ist die positive einzige Kraft der Seele, die in solcher Anlage wirket; mehr sinnlich, so weniger vernünftig; vernünftiger, so minder lebhaft; heller, so minder dunkel. Aber der sinnliche Zustand des Menschen war noch menschlich, und also wirkte in ihm noch immer Besonnenheit, nur im minder merklichen Grade; und der am wenigsten sinnliche Zustand der Thiere war noch thierisch, also wirkte bei aller Klarheit ihrer Gedanken nie die Besonnenheit eines menschlichen Bes grifs. Und weiter laffet uns nicht mit Worten spielen!

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Es thut mir leid, daß ich so viele Zeit verloren

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